T. Kanyó: Grenzen der zivilen Sphäre hinter dem eisernen Vorhang

Titel
Grenzen der zivilen Sphäre hinter dem eisernen Vorhang. Möglichkeiten von autonomen Gruppierungen in der Volksrepublik Ungarn (1975–1985). Eine historisch anthropologische Annäherung


Autor(en)
Kanyó, Tamás
Reihe
Pandora Könyvek, 13
Erschienen
Eger 2008: Liceum Kiado
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
ISBN
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Tréfás, Universität Basel

Die Beschäftigung mit osteuropäischer Geschichte ist oft an entsprechende Sprachkenntnisse geknüpft. Mitunter aber erscheinen auch in den betreffenden Ländern Bücher in westlichen Sprachen, welche eine eingehende Rezeption verdienen. So ist beispielsweise die Dissertation des Schweizer Historikers Tamás Kanyó über die Grenzen der zivilen Sphäre im kommunistischen Ungarn im Verlag der Hochschule Eger in Nordungarn erschienen. Das Buch handelt von den Entfaltungsmöglichkeiten ziviler Initiativen in der Zeit nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 bis 1985. Wie hinlänglich bekannt ist, hat die KSZE-Schlussakte die Oppositionsbewegungen im kommunistischen Osteuropa beflügelt. Daher ist es aufschlussreich, über die Möglichkeiten und Beschränkungen insbesondere in Ungarn zu erfahren, einem Land also, welches zumindest aus westlicher Sicht als vergleichsweise liberal galt.

Trotz der feudalen Gesellschaftsstrukturen hatte sich in Ungarn seit dem 19. Jahrhundert eine Zivilgesellschaft sowohl in Budapest als auch in einigen Provinzstädten ausbilden können. Doch die unterschiedlichen Regulierungsmassnahmen der immer wechselnden Regime lasteten schwer auf der Entwicklung derselben, was – gemäss dem Autor – nach wie vor spürbar ist. Eine empfindliche Einengung der zivilen Initiative geschah mit dem Machtantritt der kommunistischen Partei spätestens ab 1949. Als Konstante lässt sich aber erkennen, dass bei Nachlassen des staatlichen Drucks die Initiativen wieder entfacht wurden, wie es der Petöfi-Kreis in der Vorbereitung des Ungarnaufstands 1956 zeigt, aber auch die «geistigen Biotope» der 1960er Jahre. Bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft entwickelte sich diskontinuierlich eine erstaunliche Fülle von Gruppierungen. Die Taktik der Staatssicherheit gegenüber diesen Gruppierungen war jedoch erstaunlich effizient – selbst in der so genannten «weichen» Diktatur. Diese zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass die durchgeführten Massnahmen vor allem im Geheimen erfolgten. Ihr Auftreten zehrte vom jahrzehntelang aufgebauten «Angstkapital». Wie an den beiden Fallbeispielen, einer Friedensgruppe einerseits und einer jüdischen Gesellschaft andererseits, deutlich wird, genügte oft schon das blosse Auftreten der Staatssicherheit, um die Gruppen zu verunsichern und schliesslich zu zersetzen. Auf der einen Seite fällt auf, wie rigoros die Staatssicherheit noch kurz vor dem Niedergang der Volksrepublik gegen jegliche unliebsame Gruppierung vorging, indem diese unterwandert und zersetzt, bzw. die propagandistisch nutzbaren Teile sinnentleert übernommen wurden. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass es der Staatssicherheit kaum einmal grundsätzlich gelungen war, die private Initiative wirksam zu unterdrücken. Sobald das «Angstkapital» aufgebraucht war, verloren auch die geheimen Drohungen der Staatssicherheit an Durchschlagskraft.

Kanyó ist es gelungen, mit sehr gut gewählten Fallbeispielen und der passenden Methode (Lebenswegerzählungen) Aufstieg und Fall der zivilgesellschaftlichen – explizit nicht oppositionellen – Initiativen nachzuzeichnen. Seine genauen Kenntnisse der Szene, der Zugang zu ehemaligen Protagonisten, sowie seine Beharrlichkeit, die geheimdienstliche Zeichensprache zu entschlüsseln, sind unbestritten und entsprechend zu würdigen. Die Einbettung der Lebenswegerzählungen in den unmittelbaren gesellschaftlichen Kontext besticht durch eine Sorgfalt, die von grosser Verbundenheit des Autors mit der politischen Kultur Ungarns zeugt. Diese Verbundenheit hat aber auch ihren Preis. So fehlen weitgehend Quervergleiche zu Gesellschaften in der unmittelbaren Region. Ungarn erscheint, wie in der ungarischen Historiographie üblich, gesamthaft als Sonderfall. Es erstaunt den westlichen Leser zuweilen, wie stark sich der Autor von den gegenwärtigen politischen Strukturen abgrenzen möchte: eine Tendenz, die sich in der osteuropäischen, aber auch der italienischen Historiographie seit längerem beobachten lässt. Das Schlusskapitel konzentriert sich denn auch mehr auf den vermachteten Zustand der ungarischen Geschichtswissenschaft denn auf eine stringente Einordnung der Fallbeispiele in einen grösseren Kontext. Letzteres gelingt wohl auch deshalb nicht so recht, weil die theoretischen Werkzeuge zu wenig weit reichen. Die im Raum schwebende Frage, inwiefern sich die Unterdrückung der Zivilgesellschaft auf die heutige Situation in Ungarn auswirkt, kann so nur angedeutet, aber letztlich nicht beantwortet werden. Obwohl zu Beginn mit Habermas und Hannah Arendt argumentiert wird, wird die spezifische Form der kommunistischen Öffentlichkeitsstruktur nicht weiter beschrieben. Damit nimmt sich der Autor die Möglichkeit, die zivilgesellschaftlichen Akteure in einem grösseren Kommunikationskontext zu verorten. Der von Victor Turner entlehnte Begriff des «sozialen Dramas», wie er als theoretischer Annäherungsversuch im Schlusskapitel aufscheint, mag für die Beschreibung von Gruppendynamiken fruchtbar sein, für die Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels hinsichtlich der Entwicklung der Zivilgesellschaft ist er hingegen wenig tauglich. Der Pessimismus des Autors bezüglich des Zustands der ungarischen Zivilgesellschaft scheint berechtigt, steht doch ihre Entwicklung, wie eine Studie von Jürgen Gerhards enthüllte, etwa auf der Stufe von Spanien, Portugal oder Polen.1 Kanyós Arbeit bietet aber auch Grund zur Hoffnung. Es ist ihm gelungen zu zeigen, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement durchaus lohnt und als Ganzes selbst den Übergriffen der kommunistischen Staatsmacht trotzen konnte.

1 Vgl. Jürgen Gerhards, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei. Wiesbaden 2005.

Zitierweise:
David Tréfás: Rezension zu: Tamás Kanyó: Grenzen der zivilen Sphäre hinter dem eisernen Vorhang. Möglichkeiten von autonomen Gruppierungen in der Volksrepublik Ungarn (1975–1985). Eine historisch anthropologische Annäherung (Pandora Könyvek, 13). Eger, Líceum, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 272-273.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 272-273.

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